Dichtes Grau liegt jetzt, mitten im Winter, über den Hügeln rund um das kleine rumänische Städtchen Câmpulung. Doch die Bekanntschaft, die die Gäste aus der Renovabis-Geschäftsstelle in Freising jetzt machen dürfen, entschädigt für vieles: Im neuen Kuhstall des sozialwirtschaftlichen Milchviehbetriebs Câmpulung steht ein kleines Kälbchen. Mit riesengroßen, braunen Augen starrt es neugierig die fremden Besucher an. Die älteren Kühe dagegen bleiben vollkommen gelassen, würdigen die fremden Menschen keines Blickes und käuen gemächlich weiter vor sich hin. Der gesamte Stall strahlt Ruhe und Zufriedenheit aus. Zumindest bis Mitarbeiter Augustin die lärmende Melkanlage anwirft und ein Kollege mit einer Art Kehrmaschine die Hinterlassenschaften der Tiere beseitigt…
Riesige Augen, weiches Fell – und sowas von neugierig: ein kleines Kälbchen im neuen Stall in Câmpulung . Foto: Renovabis-Projektpartner
Rund 37 000 Einwohner hat der Ort Câmpulung, etwa zwei Autostunden sind es von Bukarest bis hierher. Die Stadt liegt am Rande einer Hügelkette in den südlichen Karpaten, auf einer Höhe von 600 m. Die klare Luft und die Landschaft machen die Gegend zu einem beliebten Ausflugsziel, im Sommer kommen viele Besucher hierher, um sich vom Trubel in der Hauptstadt zu erholen. Ehemals ein wichtiges Industriezentrum, im Mittelalter sogar die Hauptstadt Rumäniens, erlebte Câmpulung nach dem Ende des Kommunismus einen steilen wirtschaftlichen und demographischen Abschwung – mit einem heute sehr niedrigen Einkommensniveau, einem Verfall der öffentlichen Strukturen und einer großen Abwanderung von Arbeitskräften.
Aus der Milch entstehen in viel Handarbeit die kleinen Käselaibe – die sich großer Beliebtheit erfreuen. Quelle: Renovabis-Projektpartner
Der Stall, den die Gäste aus Deutschland besichtigen durften,
ist nur ein Teil des sozialwirtschaftlichen Milchviehbetriebs Câmpulung: Unter
dem Dach des Renovabis-Projektpartners, der Caritas, ist in dem Bergstädtchen
ein vielfältiges Ensemble von Einrichtungen und Programmen rund um die landwirtschaftlichen
Anlagen entstanden. Angefangen hatte alles 1992, als die Caritas Bukarest mit
dem Aufbau einer Außenstelle begann, die 1999 zur Caritas Câmpulung wurde. Seitdem
gibt es eine ganze Reihe von Projekten, die sich vor allem um benachteiligte
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene kümmern. Im Mittelpunkt stand und
steht die Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten und langfristiger Zukunftsperspektiven
für junge Menschen, aber genauso der Gedanke einer naturnahen Landwirtschaft.
Der Betrieb sollte die Ressourcen schonen und gleichzeitig ein sicheres
Einkommen für die Mitarbeiter ermöglichen. Deshalb nahm 2002 ein neuer
Bauernhof seine Arbeit auf.
Die Käselaibe finden reißenden Absatz. Quelle: Renovabis-Projektpartner
Heute leitet Pfarrer Petru Păuleţ die Caritas Câmpulung. Er ist seit 1986 in der katholischen Pfarrei in dem Bergstädtchen tätig. Früher gab es nur einen kleinen Stall, doch Pfarrer Păuleţ ist es gelungen, über einen amerikanischen Verein Mittel für den Ausbau zu gewinnen. Jetzt liegt der Kuhstall auf einem großen Gelände des Erzbistums București außerhalb von Câmpulung. Die Kühe können den ganzen Sommer und Herbst über, solange die Witterung es zulässt, draußen an der frischen Luft weiden. Von Massentierhaltung keine Spur…
Auf dem Bauernhof arbeiten vier Angestellte, dazu kommen noch zwei bis drei Freiwillige. Pirvu Florin Daniel koordiniert die Arbeit. Er ist seit zehn Jahren Assistenzmanager bei der Caritas und hat einen Universitätsabschluss sowie viele Kurse in Sozialökonomie und Strukturmanagement besucht. Die Pflege der Kühe übernehmen die Mitarbeiter Augustin, Marian und Elena. Alle drei hatten es in ihrem bisherigen Leben nicht leicht. Augustin ist 58 Jahre alt, war lange arbeitslos und hat hier wieder eine Aufgabe bekommen, die ihn erfüllt. Der 55jährige Marian arbeitet in Teilzeit als Tierpfleger, damit er sich um seine kranke Frau kümmern kann. Elena (37) hilft bei der Versorgung der Kühe, sie hat in einer geschützten Unterkunft der Caritas Câmpulung ein neues Zuhause gefunden. Die Milch der derzeit 20 Kühe wird in einer eigenen kleinen Käserei verarbeitet, die Käseherstellung unterliegt nach eigenen Angaben genau wie die Milchproduktion den Kriterien der biologischen Landwirtschaft. 180 bis 200 Liter werden täglich gemolken, viermal pro Woche wird Käse hergestellt – im Monat bis zu 300 Kilogramm. Vertrieben werden die leckeren Laibe, die noch weitgehend in Handarbeit entstehen, von einer eigens gegründeten sozialwirtschaftlichen Firma. Der Käse erfreut sich großer Beliebtheit und findet reißenden Absatz.
Mittlerweile betreibt die Caritas Câmpulung – neben einer
ausbildenden Näherei und anderen Sozialprojekten – in der Stadt ein Restaurant,
wo die eigenen Produkte angeboten werden und wo benachteiligte Mädchen eine
sichere Arbeitsstelle gefunden haben. Außerdem gibt es zwei kleine Läden, einen
in Câmpulung, einen in Bukarest. Im Sommer, wenn Touristen und Tagesausflügler
in die Region strömen, läuft es sehr gut, „wir erwirtschaften Profit“, sagt
Pfarrer Păuleţ. Im Winter allerdings kommen kaum Besucher, deswegen hat das
Team angefangen, zusätzlich einen Catering-Service aufzubauen; sogar bis nach
Bukarest wird das Essen geliefert. Insgesamt beschäftigt die Caritas Câmpulung
heute 33 Menschen: vor allem junge Frauen aus benachteiligten Verhältnissen,
alleinerziehende Mütter, Opfer von Gewalt und abstinente Suchtkranke haben eine
neue Aufgabe gefunden.
Pfarrer Petru Păuleţ, Projektpartner aus Câmpulung Quelle: Renovabis-Projektpartner
Der Gewinn aus den landwirtschaftlichen Aktivitäten fließt in pastorale und soziale Aktivitäten, größere Investitionen sind nicht möglich. Deshalb unterstützt das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis den Betrieb. Der Milchviehbetrieb braucht dringend eine neue Jauchegrube – und einen Umkleideraum mit einem kleinen Badezimmer für die Angestellten. Denn langfristig sollen weitere Kühe dazukommen: Die Käseproduktion soll mit Hilfe von modernen und leistungsfähigen Maschinen ausgebaut werden.
„Wir sind froh, dass Renovabis unseren Milchviehbetrieb unterstützt: So können wir benachteiligten Menschen helfen – und tragen mit der Herstellung von Naturprodukten zur Erhaltung der Schöpfung bei“, sagt Pfarrer Păuleţ: „Sie ist schließlich Gottes Werk, und deshalb müssen wir sie schützen. Sie wurde uns anvertraut, nicht um sie zu zerstören, sondern um sie zu retten.“
Im Amazonas
haben kleine indigene Gemeinschaften einen Weg gefunden, im Regenwald Früchte
anzubauen und ihn gleichzeitig zu schützen.
Wenn Doña Antonia Lurisi vor ihren Gemüsebeeten sitzt und Bohnen, Kürbisse oder Tomaten jätet, während hinter ihr die Baumriesen des Urwaldes aufragen, dann ist die Bäuerin nur ein winziger Teil von einem großen System. Doch ein entscheidender: Indem indigene Gemeinschaften vom Wald leben, mit und in diesem einzigartigen Organismus aus Entstehen und Vergehen, schützen sie ihn. Ohne sie gäbe es die Regenwälder hier im Norden Boliviens vielleicht gar nicht mehr. Mehr als ein Viertel des gesamten Amazonasgebiets könnten bis 2030 verloren sein, schätzt der WWF. Welche Dimensionen dieser Urwald hat, können wir uns manchmal nur schwer vorstellen. Er ist nicht nur viel größer als alle Wälder, die wir aus Europa kennen, sondern auch höher und dichter: Über 80 Meter ragen manche Baumkronen in den Himmel, im Altbau wären das fast 25 Stockwerke. Es herrscht eine riesige Artenvielfalt: Wo hier rund 12.000 unterschiedliche Baumarten stehen, sind es in Deutschland 77. Der Regenwald ist außerdem unglaublich fruchtbar: Maniok, Ananas, Bananen, Guaven, Papaya, Kakao, Kaffee oder Palmenarten wie Asaí und Majo, die bei uns als Superfoods vermarktet werden, wachsen neben Zedern, Eichen, Mahagoni, Teakbäumen und verschiedenen Heilkräutern. Auf mehreren Ebenen wuchern Pflanzen, die auf, in und mit anderen Pflanzen in Symbiose leben. Alles scheint hier miteinander verwachsen. Auf jeder Etage wimmelt es, vom dichten Gesträuch auf dem Boden, über das Gestrüpp in der Mitte, bis hinauf in die Baumkronen wohnen unzählige seltene Tierarten.
Ob Doña Antonia beschneidet oder veredelt, eine oder viele Pflanzensorten sät, nach dem Roden abbrennt oder Baumstämme, Äste und Blätter liegen lässt, all das sind Entscheidungen, die das empfindliche Ökosystem des Regenwaldes nachhaltig beeinflussen – und aus dem Gleichgewicht bringen können. Der Wald aber bildet die Lebensgrundlage für indigene und kleinbäuerliche Gemeinschaften, er ist existenziell. Deshalb können sie sich einen ausbeuterischen Umgang mit den natürlichen Ressourcen nicht leisten. „Früher haben wir einfach alles abgebrannt, um auf den freien Flächen Reis, Yucca und Bananen anzubauen“, erklärt Doña Antonia. Heute kann sie das nicht mehr verstehen. Eine der Folgen war, dass der Boden nach wenigen Jahren unfruchtbar wurde und neu gerodet werden musste. Denn wenn alte Bäume, Blätter und Zweige nicht liegen bleiben, können sie den Boden nicht düngen. Wenn es zu wenige unterschiedliche Gewächse gibt, die ihr Wurzelwerk tief in der Erde verankern, dann laugt der Boden aus und erodiert. „Jedes Jahr leiden wir hier unter Überschwemmungen“, führt Doña Antonia aus, was dann passiert. Die Fluten verderben die Früchte und Pflanzen, sie verfaulen einfach. Ist die Ernte vernichtet, müssen einige Familienmitglieder anderswo Geld verdienen, um die Familie durchzubringen. Ihre Arbeitskraft fehlt später beim Anbau. So gerät das ganze System durcheinander, Gemeinschaften zerreißen.
Der Regenwald bietet eine riesige Artenvielfalt: Kakao, Reis, Mais, Yucca, Bananen, Bohnen und viele andere Früchte werden im Schatten des Regenwaldes angebaut. Foto: Reyes/MisereorIm Einklang mit dem Wald: Doña Lurisibetreibt schonenden und nachhaltige Land-und Forstwirtschaft. Foto: Reyes/MisereorDoña Lurisimit ihrem Ehemann. Mit Nachbarn und Gemeindemitgliedern tauschen sie sich über erfolgreiche Anbaumethoden und Saatgut aus. Foto: Reyes/MisereorKleinbauern und indigene Gemeindemitglieder in Bolivien tauschen sich über Anbaumethoden und Saatgut aus. Foto: Reyes/Misereor Der Regenwald bietet eine riesige Artenvielfalt: Kakao, Reis, Mais, Yucca, Bananen, Bohnen und viele andere Früchte werden im Schatten des Regenwaldes angebaut. Foto: Reyes/MisereorDie indigenen Gemeinschaften leben im und vom Regenwald. Ihre Erfahrungen inspirieren Agroforstprojekte in anderen Ländern und Kontinenten. Foto: Reyes/MisereorDie indigenen Gemeinschaften leben im und vom Regenwald. Ihre Erfahrungen inspirieren Agroforstprojekte in anderen Ländern und Kontinenten. Foto: Reyes/Misereor
Zukunftsperspektiven
schaffen mitten im Wald
Die
ersten, die gehen, sind die jungen Leute. Sie suchen sich Arbeit in großen
Städten, wenn ihnen das Leben im Regenwald keine Perspektiven für die Zukunft
geben kann. Dort gibt es viele wie sie, so viele, dass ihre Arbeitskraft kaum
etwas wert ist. Solche Geschichten nehmen fast immer denselben Ausgang: Am Ende
landen die jungen Leute in den Slums der Vororte, die sich in ständig
wachsenden Ringen um die Stadtzentren ziehen. Sie halten sich mit
Gelegenheitsjobs am Leben. Ihre Kinder werden in Armut aufwachsen. Dass auch
Doña Antonia große Angst davor hatte, dass ihr Sohn und ihre Tochter der
Gemeinschaft eines Tages für die Stadt den Rücken kehren, kann man nur ahnen.
Darüber spricht sie nicht. Ich kann sie auch nicht fragen, denn wegen der
Coronapandemie ist es nicht möglich, die Menschen vor Ort zu treffen. Die
Gebiete sind abgeschottet. Nur über ein kompliziertes System aus übermittelten
Fragen und Videobotschaften kommt die Kommunikation zustande. Was sie aber
erzählt: Ihr Mann musste die Familie oft tage- oder wochenlang verlassen, um
als Tagelöhner woanders Geld zu verdienen. Es wäre wohl wie bei so vielen nur
eine Frage der Zeit gewesen, bis die Kinder sich aufgemacht hätten, um woanders
eine Zukunft zu suchen.
Vielleicht
war Doña Antonia deshalb so fest entschlossen, etwas am Schicksal ihrer
indigenen Community zu ändern und die Sache in die Hand zu nehmen. Ein Umdenken
in den indigenen Territorien findet schon länger statt. Doch wirklichen Wandel
brachten Versammlungen und Workshops, in denen es um eine schonende
Waldwirtschaft und bessere Vernetzung der verstreuten Gemeinschaften geht.
Organisiert werden sie zum Beispiel von der lokalen kirchlichen Organisation
Caritas Reyes in Nordbolivien. Die Inhalte werden mit Gemeinden im Regenwald
gemeinsam entwickelt. Mitarbeitende der Caritas und Teilnehmerinnen und
Teilnehmer teilen ihr Wissen und ihre Erfahrungen miteinander, tauschen sich
über Methoden aus und überlegen gemeinsam, welches Werkzeug angeschafft werden
könnte. Seit Doña Antonia und ihr Mann Leoncio sich in Workshops und
Versammlungen ihrer Gemeinde engagieren, kommt die Familie ohne Brandrodung
aus. „Ich säe heute eine Vielfalt von Pflanzen: Reis, Mais, Yucca, Bananen,
Feigenbananen, Bohnen, Canavalia-Hülsenfrüchte. Ich hätte nie geglaubt, dass
das alles keimt. Doch die Mitarbeitenden der Caritas haben uns die neuesten
Techniken gezeigt, wie man die Qualität der Ernte verbessert, indem man
Landwirtschaft im Einklang mit dem Wald betreibt und dabei die Umwelt schützt.“
Die Lebensqualität in dem Örtchen Guaguauno in der Gemeinde Reyes nördlich des
Regierungssitzes La Paz ist durch die sogenannte „Agroforstwirtschaft“ deutlich
gestiegen. Sie bedeutet ein Besinnen auf eine Lebensweise, die Indigene im
Amazonas traditionell pflegten, bevor der Kapitalismus den Wald zum Supermarkt
erklärte.
Der
Regenwald ist wertvoller als Geld
„Die
Menschen haben hier natürlich keine großen finanziellen Ressourcen und kein
großes Einkommen“, sagt Franco Calle Patroni, der seit fünf Jahren bei Caritas
Reyes arbeitet und selbst aus der Gegend kommt. Trotzdem haben die Indigenen
auch etwas sehr Wertvolles, nämlich das Wissen, dass es auch anders geht: dass
die Natur als Lebensraum einen ganz anderen Stellenwert haben kann als unsere
technisierten und industrialisierten Gesellschaften sich vorstellen können.
Dass sich auch zu Bäumen, Insekten, Bächen und Steinen Beziehungen aufbauen
lassen und man sie so sacht und behutsam behandeln kann, als gehörten sie zur
Familie.
Deshalb
schätzt man bei der kirchlichen Organisation die Weltanschauung der Regenwaldbevölkerung,
denn sie gibt neue Impulse für die westliche Lebensweise, die an ihre Grenze
gekommen ist. So lernen die Workshop-Leiterinnen und -Leiter selbst ständig
dazu.
Doña
Antonia hat genau die Erfahrung gemacht, dass ihre Sichtweise und ihre
Erfahrungen geachtet werden. Besonders stolz ist sie darauf, dass sie zu einer
Reise nach Florianópolis in Brasilien eingeladen wurde, um sich dort mit
anderen Bäuerinnen auszutauschen. Dabei ging es auch um ein solidarisches und enges
Miteinander auf dem Weg zu einer Produktionsweise im Einklang mit dem Wald und
der Natur. Dieses Gefühl, sich mit den eigenen Ideen einbringen zu können,
ernstgenommen zu werden, eine Stimme zu haben, nicht allein zu sein mit ihrer
Weltanschauung, bedeutet der Indigenen viel. Die neuen Denkanstöße hat Doña
Antonia zurück in ihre Gemeinschaft getragen.
Das
ist das Prinzip: Auf der einen Seite betreiben Bäuerinnen und Bauern wie
Antonia ihren Landbau im Wald so minimalinvasiv und schonend wie möglich. Auf
der anderen Seite sind sie weit über ihre Gemeinschaften hinaus vernetzt und
tauschen international ihr Knowhow aus. Vielleicht gehören sie damit schon zu
einer neuen Avantgarde, die eine progressive Lebensweise verkörpert. Weil sie
inmitten und von der Natur leben und damit ganz direkt von ihr abhängig sind,
bekommen Indigene und Kleinbäuerinnen und Kleinbauern Veränderung durch den
Klimawandel sofort zu spüren. Die Verletzlichkeit des Waldes wird zu ihrer
eigenen Verletzlichkeit. Der Klimawandel ist für Doña Antonia keine zukünftige
Bedrohung, sondern längst da.
„Ernährungssouveränität“
ist aus diesem Grund existenziell. Sie bedeutet, dass die Bevölkerung durch die
Vielfalt ihrer Produkte unabhängig leben und sich gesund ernähren kann. „Ich
bin Mitglied einer Frauenkooperative“, erzählt Doña Antonia. „Wir sind 20
Frauen aus fünf verschiedenen Gemeinschaften. Gemeinsam lernen wir, wie wir
Milch und Früchte weiterverarbeiten können, die uns früher einfach schlecht
geworden wären. Wir stellen Joghurt her und Marmelade aus Sternfrucht, Papaya,
Guave, aus allem, was uns die Natur gibt.“ Die Ernährungssouveränität hat in
der Gemeinde einen umfassenden Umbruch mit sich gebracht. Während früher die
Familienväter irgendwo anders einen schlecht bezahlten Job als Saisonarbeiter
annahmen, um Geld für zusätzliche Nahrungsmittel zu verdienen, mussten die
Familienmütter neben der Versorgung der Kinder, dem Kochen und Wäschewaschen
auch noch die landwirtschaftliche Produktion allein stemmen. Heute ist die
eigene Nahrungsmittelproduktion so vielseitig, dass fast nichts dazu gekauft
werden muss. Im Gegenteil: Sie wirft Überschüsse ab, von deren Verkauf die
Familie gut leben kann.
Das
Kleine kann Großes bewirken
Tatsächlich
bietet die Waldparzelle Doña Antonia mittlerweile alles, was sie für ein gutes
Leben braucht: „Die vielfältigen Produkte, die wir hier auf natürliche und
nachhaltige Weise produzieren, sind gut für unsere Gesundheit.“ Doch das
wichtigste ist für die zähe Frau, dass sie mit Mann und Kindern zusammen arbeiten
kann. Ihr Land bestellen sie gemeinsam: „Wir sind als Familie vereint, wir
reden über alles, wir planen gemeinsam, was wir wie und wo anbauen. Wir leben
wirklich im Überfluss durch die Gemeinschaft und die Vielfalt an Pflanzen, die
wir hier auf engstem Raum haben“. Die beiden Kinder sind inzwischen erwachsen,
sie haben das Dorf nicht verlassen.
Wäre
die Geschichte von Doña Antonia an dieser Stelle zu Ende, wäre es ein Happy
End. Doch so einfach ist es im Amazonas nicht. Von allen Seiten wird der Regenwald
und mit ihm die kleinen selbstbestimmten Gemeinschaften bedroht, denn auf dem
Weltmarkt ist er viel Geld wert. Der indigene Anspruch auf Bodenrechte wird da
schnell zur Auslegungssache. Großunternehmen holzen die Bäume in großem Stil
ab, um Monokulturen von genmanipulierter Soja anzubauen oder riesige
Rinderzuchten zu betreiben. Solche Flächen fressen sich immer weiter in den
Urwald hinein. Auf den ausgelaugten Böden wächst kaum noch etwas, das Land wird
anfällig für Überschwemmungen und den Klimawandel. Die Regierung plant immer
neue Großprojekte, gewaltige Stauseen, die alles überfluten würden.
Erdgasfelder mitten im Urwald.
„Wir sind leider untereinander noch nicht gut genug organisiert, um dem etwas entgegenzusetzen“, ist Doña Antonia klar. „Das müssen wir ändern“. Sie sagt das mit derselben anpackenden Art, mit der sie sich die Ärmel hochkrempelt und lospflanzt. Irgendwie macht das zuversichtlich, dass jemand wie sie die gigantische Abholzung der Wälder doch noch aufhalten kann.
„Manchmal, in traurigen Minuten wie heute, kommen mir solche Gedanken: Du und Papa kehrt in die Ukraine zurück, und wir bleiben für immer zusammen. Lass es weniger Geld geben, weniger Möglichkeiten, aber wir werden glücklich sein!“, schreibt in einem Brief die elfjährige Olena, deren Eltern im Ausland arbeiten. Sie gehört zu den sogenannten ukrainischen „Eurowaisen“: Das sind Kinder der Arbeitsmigranten aus der Ukraine, die zwar wirtschaftlich gut versorgt sind, aber ohne Eltern bei ihren Familienangehörigen aufwachsen.
Dieses Phänomen ist nicht neu. Laut Olexandra Slobodian, der Migrationsexpertin des CEDOS [ukrainisches Sozialforschungszentrum] gingen allein 2016 rund 700 000 Ukrainer ins Ausland. Die gegenwärtige Tendenz wird leider nicht besser, und das hat klare Gründe: Wirtschaftliche und politische Krise im Staat sowie ständig steigende Arbeitslosigkeit zwingen immer mehr Bürgerinnen und Bürger ins Ausland zu gehen, dort eine bessere soziale und wirtschaftliche Lage zu suchen und von dort aus ihren Kindern eine „bessere“ Zukunft zu ermöglichen.
Ist es jedoch genug, die Beziehung mit Mama und Papa nur per Skype (wohl auf einem teuren Handy) zu pflegen? Einerseits ist die Aufgabe einer guten materiellen Kinderversorgung dadurch gewissenhaft erfüllt. Die meisten Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten, bestätigen, dass ihre Familien grundsätzlich keine materiellen Schwierigkeiten mehr haben. Anderseits führen die mangelnde Betreuung und Aufsicht vonseiten der Eltern zu einer Reihe sozialer und psychologischer Probleme: Immer öfter werden die Kinder der Arbeitsmigranten mit „Straßenkindern“ verglichen, da sie oft ohne jede Erziehung bleiben. Weil das Geld für die „Eurowaisen“ kein Problem ist, werden sie manchmal alkohol- oder sogar drogenabhängig, was sie zu einem guten Ziel und Opfer des Drogenhandels macht. Negative Folgen kann man auch bei ihrer Leistung in der Schule merken. Im Juni 2016 wurde in der Ukraine eine Umfrage unter mehr als 50 000 Schulabgänger durchgeführt, einschließlich der Kinder der Arbeitsmigranten: Ergebnisse zeigen, dass die durchschnittliche Note der Absolventinnen und Absolventen mit beiden Elternteilen im Ausland etwa zehn Prozentpunkte niedriger ist als bei ihren Altersgenossen, die mit ihren Eltern zusammenwohnen.
Obwohl das Problem der „Eurowaisen“ in der Ukraine nicht neu ist, gibt es da im Gegensatz zu anderen Ländern immer noch keine Einrichtungen bzw. erfolgreiche Projekte für die vorübergehende Betreuung solcher Kinder. In der Praxis heißt es auch, dass das Kind, dessen Eltern ins Ausland gegangen sind, ohne gesetzliche Vertreter bleiben kann, die seine Rechte schützen würden. Das Kind weiß in diesem Alter auch noch nicht immer, was für sich am besten ist. Dies weist darauf hin, dass die Kinder der Arbeitsmigranten eine verletzliche Kategorie sind, die deswegen eine besondere staatliche Hilfe benötigt. Diese Staatsaufgaben übernehmen in der Ukraine einige soziale und christliche Organisationen und Stiftungen. Spitzenreiter bei der Hilfe für die „Eurowaisen“ ist die Caritas Ukraine. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mehr als zehn Jahre aktiver Erfahrung in der Arbeit mit den Kindern und Familien der Arbeitsmigranten, erzählt in einem Gespräch mit dem Bistum Eichstätt Andrij Waskowycz, der Leiter der Caritas Ukraine. Caraitas stellt Fachleute zur Verfügung, wie z. B. Sozialarbeiter und Psychologen, die solche Familien ständig und professionell unterstützen und begleiten können.
Natürlich ist nicht jedes Kind, dessen Eltern derzeit in der EU arbeiten, erfolglos in der Schule oder sofort alkoholabhängig. Wenn es allerdings auch nur eins wäre, bräuchte das Problem eine Lösung. es sind jedoch viele Kinder, die kein Geld brauchen, sondern jemanden zu lieben und zu sprechen.
Sternsinger-Aktion
„Segen bringen, Segen sein. Kindern Halt geben – in der Ukraine und weltweit“ lautet das Motto der kommenden, 63. Aktion Dreikönigssingen. Dabei werden die Sternsinger auf das Schicksal von Mädchen und Jungen aufmerksam machen, die mit nur einem Elternteil, bei Großeltern oder in Pflegefamilien aufwachsen, weil ihre Eltern im Ausland arbeiten.
Bevor
er aufs Gaspedal tritt, spricht Bischof Johannes Bahlmann noch kurz ein Vaterunser.
Dann steuert er seinen Pick-up rasant über eine buckelige Staubpiste. Die
Rinderweiden rechts und links der Straße werden nur ab und zu von Waldstücken
unterbrochen. „Hier ist schon alles abgeholzt“, sagt er. „Schlimm ist das.“
Seit
zehn Jahren leitet der Mann, der aus dem niedersächsischen Visbek stammt und
den hier alle nur Dom Bernardo nennen, die Diözese von Óbidos. Die Stadt mit
50.000 Einwohnern liegt am Ufer des Amazonas im brasilianischen Bundesstaat
Pará. An diesem heißen Nachmittag ist er auf dem Rückweg aus Alenquer, dem
nächsten größeren Ort. Er hat dort ein kleines, von Ordensschwestern geleitetes
Krankenhaus besucht. Es gilt vor allem wegen seiner Geburtsstation, die vom
Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat gefördert wird, als eines der besten
Hospitäler der Region. Rund drei Stunden dauert die Rückfahrt nach Óbidos – gar
nicht so lang, wie Dom Bernardo betont. Seine Reisen dauern sonst länger.
Die
Diözese des 59-Jährigen ist eine der größten in Brasilien, sie reicht vom
Amazonas bis an die Grenze zu Surinam. Diese ländliche, größtenteils von
Dschungel bedeckte Region gehört zu den konfliktreichsten des Landes. Hier herrschen
eigene Gesetze. Es geht rauer zu, der Staat ist weit weg und die Infrastruktur
prekär. Großgrundbesitzer, Holzfäller und Viehzüchter geben den Ton an. Die
Situation ist durchaus mit der im „Wilden Westen“ vergleichbar. „Man braucht
Mut und Vertrauen, wenn man hier etwas bewirken will“, sagt Dom Bernardo und
weicht einem Schlagloch aus.
Drei
besonders drängende Probleme gibt es für den Bischof. Da sei erstens die
Umweltzerstörung. Sie nehme immer beunruhigendere Ausmaße an, insbesondere seit
Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro den Amazonas praktisch zur
Ausbeutung frei gegeben hat – ohne Rücksicht auf Ureinwohner, Kleinbauern und
Fischer. Der Amazonas werde von der Regierung an transnationale Konzerne
verscherbelt, meint der Bischof.
Damit eng verbunden sei eine tiefe soziale Ungerechtigkeit. „Viele Menschen in meiner Diözese sind arm, sie besitzen kein oder nur sehr wenig Land“, sagt Bischof Bahlmann. „Sie leben häufig von der Hand in den Mund.“ Ihnen gegenüber stünden wenige, sehr reiche Großgrundbesitzer, die meist mit der Politik verbandelt seien.
Um in die Dörfer zu gelangen, fährt Bischof Bernardo Bahlmann mit dem Boot der Diozöse. Foto: Florian Kopp/Adveniat
Als dritte große Herausforderung nennt Dom Bernardo die Ausmaße seiner Diözese. Sie ist halb so groß wie Deutschland, hat aber lediglich eine Handvoll Straßen. „Es ist nicht einfach für mich, bei den Menschen präsent zu sein“, erklärt Dom Bernardo. „Aber ich versuche es.“
Und
so reist der Bischof manchmal tagelang mit Booten über die Flüsse, um die Menschen
in seiner Diözese zu besuchen. Einige tief im Dschungel gelegene
Missionsstationen sind nur mit dem Propellerflugzeug zu erreichen. „Es ist
heute wichtiger denn je, dass die Kirche zu den Menschen geht“, zitiert Dom
Bernardo Papst Franziskus. „Wir dürfen nicht bequem sein. Was nützen uns die
schönsten Gebete, wenn wir die Menschen nicht mehr erreichen.“
Deswegen
ist Dom Bernardo auch ein großer Befürworter von Laienpriestern. „Ohne sie gäbe
es vielerorts im Amazonasgebiet gar keine Gottesdienste mehr“, sagt er.
Besonders am Herzen liegt ihm die von Adveniat finanzierte Laienschule in Óbidos.
Katholiken aus den entferntesten Orten werden hier zu Laienpredigern
ausgebildet und in sozialen und ökologischen Themen unterrichtet. Die Ausbildung
habe schon einige Führungspersönlichkeiten hervorgebracht, die in ihren
Gemeinden etwas zum Positiven veränderten, berichtet Dom Bernardo. Nur so bekomme
man auch die Jugend ins Boot.
Der
Bischof macht nach langer Fahrt zum ersten Mal Halt an einem kleinen Weiler. Die
Kirche am Wegesrand ist mit Blumen und bunten Bändern geschmückt. Am nächsten
Tag sollen hier die Kinder Erstkommunion feiern. Als er aus dem Wagen steigt, eilen
gleich einige Kinder und Frauen herbei. Sie küssen die Hand von Dom Bernardo,
der es ihnen gleichtut. So ist es Brauch in dieser Region. Man wünscht sich
gegenseitig den „Segen“.
Bischof Bernardo Bahlmann trinkt mit Dorfbewohern einen Kaffee. Foto: Florian Kopp/Adveniat
Sogleich wird der Bischof auch zu Kaffee und Kuchen auf den Hof der Familie eingeladen. Die Zuwanderer aus dem armen und trockenen Nordosten Brasiliens haben sich im Amazonasgebiet eine bescheidene Landwirtschaft aufgebaut. Sie schätzen an ihrem Bischof, dass er ein Mann des Volkes ist, einer zum Anfassen. Tatsächlich macht Dom Bernardo kein großes Aufheben um sich. Der Franziskaner ist meist in hellen Baumwollhosen und Hemd unterwegs und stellt außer einem Bischofsring keine Insignien seines Amtes zur Schau.
Bischof Bernardo Bahlmann spricht mit dem Jugendlichen Paulo Aquila (15), der später ins Seminar eintreten will. Sein Vater Aginaldo Silva ist Diakon und leiter der katholischen Gemeinde des Dorfes Maria Theresa.
Dafür
bewirkt das Engagement des Bischofs für ökologische und soziale Gerechtigkeit umso
mehr. Auch dank seines Einsatzes fährt seit 2019 ein Hospitalschiff mit rund 30
Ärzten und Krankenpflegern an Bord auf dem Amazonas und seinen Zuflüssen. Die
„Papa Francisco“ bringt medizinische Versorgung an Orte, an denen die Menschen
häufig noch nie zuvor einen Arzt gesehen haben. 700.000 Menschen sollen so erreicht
werden. „Wir leisten hier einen ganz konkreten wichtigen Dienst am Menschen“, erklärt
Dom Bernardo. 50.000 Euro hat Adveniat zu Beginn der Coronakrise der
Gesundheitspastoral des Bistums und dem Krankenhaus in Alenquer zur Verfügung
gestellt.
Nach
einer kurzen Nacht in Óbidos bricht der Bischof am nächsten Morgen erneut auf.
Diesmal geht es ins Dorf Arapuçu, eine halbe Stunde flussaufwärts. Arapuçu ist
ein Quilombo, eine Siedlung von Nachkommen ehemaliger Sklaven. Dem Bischof ist
es wichtig, heute hier zu sein, denn in Brasilien wird der „Tag des Schwarzen
Bewusstseins“ begangen, der an die Leiden und den Kampf der
afro-brasilianischen Bevölkerung erinnern soll.
Im
nach allen Seiten offenen Gemeindesaal von Arapuçu haben sich die Bewohner versammelt.
Einige Schüler singen ein Lied über die Diskriminierung einer schwarzen Frau.
Dann ergreift Dom Bernardo das Mikrofon. Es sei wichtig, die eigene Geschichte
und Kultur zu kennen und dafür einzutreten, sagt er. Zum Abschied küssen die
Menschen dem Bischof wieder die Hand, und er erwidert die liebevolle Geste: „Segen!“
Auf dem Rückweg sagt er nachdenklich: „Wir haben zwei große Aufgaben als Kirche
im Amazonasgebiet. Wir müssen die Wunden der Natur heilen. Und wir müssen die
Wunden der Menschen heilen.“
Adveniat-Weihnachtsaktion 2020: ÜberLeben auf dem Land
Trotz Landflucht lebt jeder Fünfte in Lateinamerika und der Karibik auf dem Land. Das bedeutet häufig auch, abgehängt und ausgeschlossen zu sein. Wer auf dem Land geboren ist, ist dreimal häufiger von Armut betroffen als eine Person, die in der Stadt geboren wird. Die Gesundheitsstationen in ländlichen Regionen sind oft miserabel ausgestattet, denn es gibt dort kaum Diagnosemöglichkeiten, Medikamente und Fachpersonal. Und dann kam im Mai 2020 auch noch Corona. Das Virus trifft mit der Landbevölkerung auf eine besonders verletzliche Gruppe von Menschen, deren Immunabwehr aufgrund ihrer Armut, den chronischen Leiden an Infektionskrankheiten sowie ihrer schlechten Ernährungssituation bei einer Infektion schnell überfordert ist. Deshalb rückt das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat mit seiner diesjährigen Weihnachtsaktion unter dem Motto „ÜberLeben auf dem Land“ die Sorgen und Nöte der armen Landbevölkerung in den Blickpunkt. Schwerpunktländer sind Argentinien, Brasilien und Honduras. Die Eröffnung der bundesweiten Adveniat-Weihnachtsaktion findet am 1. Advent, dem 29. November 2020, im Bistum Würzburg statt. Die Weihnachtskollekte am 24. und 25. Dezember in allen katholischen Kirchen Deutschlands ist für Adveniat und die Hilfe für die Menschen in Lateinamerika und der Karibik bestimmt. Spendenkonto bei der Bank im Bistum Essen, IBAN: DE03 3606 0295 0000 0173 45 oder unter www.adveniat.de.
Das Marienkloster im norwegischen Tautra wird erweitert – das Bonifatiuswerk unterstützt mit der Diaspora-Aktion 2020 unter anderem die Arbeit der Ordensschwestern.
Ringsherum tiefblaues Wasser, in dem sich das Licht der Frühlingssonne bricht. Erst die teils schneebedeckten Berge begrenzen in einiger Entfernung die Weite des Fjordes. Über all dem das Azurblau des Himmels, an dem kaum eine Wolke zu sehen ist: Dieses Panorama, das sich dem Betrachter von dem grasbedeckten Hügel auf Tautra aus bietet, kann sich sprichwörtlich sehen lassen. Kein Wunder, dass sich einst an genau dieser Stelle auf der kleinen Insel im Trondheim-Fjord Zisterziensermönche niederließen. Von dem 1207 gegründeten Kloster sind nur die Ruinen der Abteikirche übriggeblieben – davor eine Hinweistafel, die über Bedeutungsverlust und Aufgabe des Klosters infolge der Reformation informiert. Das Ende des Ordenslebens auf Tautra? Nein. Nur wenige hundert Meter entfernt vom alten Standort setzen Trappisten-Schwestern die Tradition in ihrem 2006 eingeweihten Marienkloster fort.
Das Kloster Tautra ist nur ein Beispiel dafür, dass die kontemplativen Orden in Norwegen derzeit eine Blüte erleben. Wirkten bis vor wenigen Jahren vor allem aktive Gemeinschaften wie die Josephs-, die Franziskus-Xaverius- oder die Elisabethschwestern in Krankenhäusern und Pfarrgemeinden – heute sind vor allem aktive Gemeinschaften aus den Philippinen und Vietnam mit jungen Schwestern vertreten –, zeigt sich mittlerweile ein Trend zu monastischen Orden. Aus deutscher Sicht wirkt das alles wie eine verkehrte Welt: Hierzulande mangelt es den Ordensgemeinschaften massiv an Nachwuchs, es mangelt zudem an Geld. Als Folge werden Klöster – auch traditionsreiche – aufgegeben, Ordensprovinzen werden zusammengeschlossen. Ein Spiegelbild der allgemeinen Kirchenkrise in Deutschland. Parallel dazu Norwegen: Hier heißt es bei den Orden Aufbruch statt Abbruch – in einem Land, in dem die katholische Kirche insgesamt kontinuierlich wächst, in einigen Regionen monatlich sogar um ein Prozent.
Mittagsgebet in der Klosterkirche: Sonnenlicht dringt durch das
gläserne Dach und fällt auf das darunter liegende Holzgebälk. Ein einzigartiges
Licht- und Schattenspiel erfüllt den Raum. Hinter dem Altar gibt eine große
Glaswand den Blick auf den Fjord frei: die Schönheit der Schöpfung wird zum
Altarbild. Der klare Psalmgesang der Schwestern, begleitet von zarten
Harfenklängen, vollendet die mystische Atmosphäre, die ausstrahlt. Ließen sich
einst sieben Schwestern aus dem US-Bundestaat Iowa auf der einsamen Insel
nieder, führen hier mittlerweile 16 Nonnen aus zwölf Nationen ein beständiges
Leben im benediktinischen Rhythmus von Ora et labora et lege.
Das Kloster ist daher inzwischen zu klein. Es soll nun um einen
neuen Flügel mit weiteren Zellenzimmern erweitert werden. „Manchmal kommen
Menschen zu uns, um nach Orientierung im Leben zu suchen“, berichtet Schwester Gilchrist
Lavigne von ihren Erfahrungen, „wenn sie mögen, helfen wir ihnen auf ihrem
Weg.“ Und genau in dieser Aussage spiegeln sich die Offenheit des Klosters und
die gelebte Willkommenskultur der Schwestern wider. In einem Gästehaus bieten
die Nonnen Raum für all jene, die sich in die Stille und die spirituelle
Atmosphäre dieses Ortes zurückziehen möchten. Auf der Halbinsel sind alle
Menschen willkommen und zum Gebet eingeladen, egal ob sie tief im Glauben
verwurzelt sind, der Kirche skeptisch gegenüberstehen oder einfach nur aus der Neugierde
heraus einen Einblick in das klösterliche Leben bekommen möchten. Viele der
Menschen in der Region hätten lange darauf gewartet, dass auf Tautra wieder ein
Kloster entstünde. Viele von Ihnen möchten eine Nacht auf Tautra verbringen, um
die Stille und Spiritualität des Ortes zu erleben. Die Nachfrage sei so groß,
dass die Schwestern leider immer mehr Absagen machen müssten.
Ein angenehmer Duft liegt in der Luft, wenn die Nonnen 50
Kilogramm schwere Seifenblöcke, die mit Lavendel, Sandelholz, Mandel, Honig
oder diversen Kräutern versetzt sind, in 630 handgerechte Stücke zerteilen. Die
Trappistinnen verdienen einen Teil ihres Lebensunterhalts durch die Produktion
von Seifen und Cremes. Doch Geld steht hier nicht im Mittelpunkt: „Die Seife
bietet ein wunderbare Möglichkeit, den Menschen zu begegnen und mit ihnen in
Dialog zu treten“, erklärt Schwester GilChrist: »Wir produzieren jedes Stück
Seife als ein Gebet für den Frieden und wir beten für die Menschen, die sie
kaufen.“
„Orte wie das Marienkloster auf der Halbinsel Tautra, an denen
Glaube und Kirche auf besondere Weise gelebt werden sind besondere Ort die
zeigen, wie lebendig und erfolgreich Norwegens Katholiken trotz oder gerade
wegen ihrer Diaspora-Situation sind“, ist sich der Generalsekretär des
Bonifatiuswerkes, Monsignore Georg Austen sicher. Bei all seinen Besuchen habe
er stets eine sehr internationale und stark wachsende Glaubensgemeinschaft
erlebt, die sehr viel Mut für die Zukunft mache. Mit seinen 16 Schwestern aus
zwölf unterschiedlichen Nationen ist das Marienkloster ein Spiegel der
multikulturellen Migrantenkirche in Norwegen.
Bischof Bernt Eidsvig spricht von einem Pfingstwunder, denkt er an
die vielen verschiedenen Sprachen, die er sonntags in den Gottesdiensten hört.
„Die Kirche in Norwegen ist eine ganz untypische Kirche“, betont er, „85 Prozent
unserer Mitglieder sind im Ausland geboren.“ Das klinge zwar zunächst schwierig,
meint der Oberhirte, allerdings dürfe man dabei nicht vergessen, dass die
Kirche in Norwegen schon immer eine Einwandererkirche gewesen sei. „Im 19.
Jahrhundert kamen die Katholiken vor allem aus Deutschland, Holland oder Frankreich.
Ab den 1970er Jahren war die Kirche asiatisch geprägt. Heute stammen mehr als
die Hälfte aller aus Polen.“ Eine ständige pastorale Herausforderung bleibt
daher die Frage der Integration all jener, die neu hinzukommen. Die
verschiedenen Muttersprachen spielen dabei eine bedeutende Rolle. Gerade die
Ordensgemeinschaften spielten daher eine zentrale Rolle bei der Integration der
Migranten.
Um ihr Kloster weiterentwickeln und weiterbauen zu können, hoffen die Ordensfrauen auf die Unterstützung des Bonifatiuswerkes, das sich der Anliegen der Katholiken annimmt, die in einer Minderheit leben. Ihnen steht das »Hilfswerk für den Glauben« solidarisch zur Seite. „Die Schwestern zeigen auf eindrückliche Weise, wie das Leitwort unserer Diaspora-Aktion 2020 „Werde Hoffnungsträger!“ mit Leben gefüllt werden kann. Die Ordensschwestern lassen ihre Hoffnung überspringen und setzen für viele Menschen einen Anker des Vertrauens. Durch sie ist zu spüren, was christliche Hoffnung bedeutet, die andere inspirieren, motivieren und mitreißen kann«, sagt der Generalsekretär des Bonifatiuswerkes, Monsignore Georg Austen. In diesen herausfordernden Zeiten will das Hilfswerk mit der diesjährigen Diaspora-Aktion ermutigen, zu Hoffnungsträgern für andere zu werden.